Montassar BenMrad, Präsident des wichtigsten Muslimverbandes, über religiösen Terror, die Flüchtlingswelle und die grosse Integrationsleistung der Schweiz.
Herr BenMrad, was haben die jüngsten Anschläge in Paris mit dem Islam zu tun?
Eine radikalisierte Gruppe, die wie eine apokalyptische Sekte funktioniert, hat diese Anschläge verübt. Sie behaupten zu Unrecht, dass sie dies im Namen des Islams tun. Für die Muslime ist klar, dass die Anschläge nichts mit der Religion zu tun haben. Ich zitiere aus dem Koran: «Wer einen Menschen tötet, dann ist es als hätte er die ganze Menschheit getötet. Und wer einem Menschen das Leben rettet, dann ist es, als hätte er die ganze Menschheit gerettet.» Mehr als 250 islamische Gemeinschaften der Schweiz stehen hinter dem Communiqué der Föderation Islamischer Dachorganisationen Schweiz, in dem wir diese abscheulichen und feigen Attacken aufs Schärfste verurteilen.
Ein Teil der Muslime findet, sie müssten sich nicht vom Terror distanzieren, weil sie mit diesem rein gar nichts zu tun hätten, so argumentiert auch der sogenannte Islamische Zentralrat. Ist das eine legitime Position?
Darüber haben wir intern auch eine Debatte geführt, ich verstehe diese Haltung. Aber in einer solchen Situation genügt das nicht. Wir müssen an unsere Position erinnern, sonst geraten wir unter Verdacht, Sympathien für die Terroristen zu hegen. Solange es solche Vorfälle gibt, müssen wir sie auch klar und deutlich verurteilen.
Kann auch in der Schweiz passieren, was in Paris passiert ist?
Ein Risiko besteht immer. Aber die Schweiz und Frankreich unterscheiden sich grundlegend. Frankreich hat eine kolonialistische Vergangenheit und führt heute Kriege in mehreren muslimischen Ländern. Die Schweiz hingegen ist bekannt für ihr Friedensengagement. Hinzu kommt, dass die muslimischen Jugendlichen in der Schweiz eine Perspektive haben. Sie leiden weniger unter Arbeitslosigkeit. Die Integration funktioniert hier deutlich besser.
Ist es für die Schweiz von Vorteil ist, dass die hiesigen Muslime vor allem aus nicht-arabischen Staaten wie Albanien, Bosnien oder der Türkei kommen, wo ein gemässigter Islam gelebt wird?
Man muss sehr aufpassen, wenn man behauptet, dass die Risiken grösser sind, wenn viele Muslime aus dem arabischen Raum stammen. Man darf keinen Teil der Muslime unter Generalverdacht stellen. Radikale Gruppen versuchen Jugendliche zu rekrutieren, die kaum Wissen über den Islam haben, die oft Verlierer und Kleinkriminelle sind, die auf Identitätssuche sind. Diesen sektenartigen Mechanismus muss man anschauen, statt ethnische Kriterien anzuwenden. Es gibt ja in Frankreich und in der Schweiz auch radikalisierte Konvertiten ohne Migrationshintergrund.
Es sind aber vorwiegend arabischstämmige Männer, die Anschläge verüben.
Das hängt aber vor allem damit zusammen, dass in Frankreich und Belgien die gesellschaftliche Situation junger Muslime schwierig ist. Und viele Migranten dort stammen aus arabischen Ländern.
Auch in der Schweiz gibt es eine kleine Gruppe von Muslimen, die vom Extremismus des IS fasziniert sind. Haben die muslimischen Verbände Instrumente, um solche Menschen ausfindig zu machen?
Man muss die Relationen wahren. Pro Jahr ziehen in der Schweiz 1,5 Personen pro 100’000 Muslime in den Krieg nach Syrien oder in den Irak. Jede einzelne davon ist natürlich eine zu viel. Aber wir haben wohl in der Gesamtgesellschaft einen höheren Anteil an Menschen, die geisteskrank sind.
Heisst das, die muslimischen Gemeinschaften können nichts dagegen ausrichten?
Junge Menschen werden manipuliert, radikale Gruppen entfremden sie von ihren Familien, ihren Freunden und sogar von den Moscheen, um mehr Einfluss auf sie ausüben zu können. Die Leute, die sich so verführen lassen, sind oft jene, die kein tieferes Verständnis des Islams haben. Die muslimischen Verbände und Moscheevereine leisten viel Jugendarbeit, um solche Entwicklungen zu verhindern. Aber wenn sich jemand bewusst von der Gemeinschaft abkapselt, ist es schwierig, einen Zugang zu finden. Die Bekämpfung des Extremismus ist deshalb nicht nur eine Aufgabe des Muslime, sondern auch des Staates – ähnlich wie bei Hooligans und gewalttätigen links- oder rechtsextremen Gruppen, die auch versuchen, Jugendliche zu verführen.
In der Schweiz funktioniert das Zusammenleben mit den Muslimen bisher relativ gut. Was muss getan werden, damit die Situation so bleibt?
Wir brauchen eine vereinigte Front gegen Terror und Gewalt. Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft, das hat Angela Merkel zu Recht unterstrichen. Wir alle zusammen stehen gegen die Barbarei. Das heisst auch, dass es gefährlich ist, nun die Muslime zu stigmatisieren. Das kann dazu führen, dass sich ein Teil der muslimischen Jugendlichen von der Gesellschaft ausgegrenzt fühlt und sich deshalb radikalisiert. Wer nun aus politischem Kalkül vor einer muslimischen fünfte Kolonne warnt, spielt mit dem Feuer.
Fürchten Sie eine politische Verhärtung oder gar Anschläge auf muslimische Einrichtungen?
Solche Sachen sind in den letzten Tagen bereits geschehen, ich möchte das jetzt aber nicht weiter kommentieren. Viele Leute, die sich islamfeindlich äussern, merken nicht, dass die Muslime, die hier leben, nicht Teil des Problems sind, sondern der Lösung. Es braucht eine kollektive Anstrengung, wir dürfen uns nicht von den Extremisten auseinander dividieren lassen. Dazu gehört auch der interreligiöse Dialog.
Das Schweizer Stimmvolk wird über ein Verhüllungsverbot abstimmen. Mit welchen Gefühlen schauen Sie dieser Debatte entgegen?
Das ist wie bei den Minaretten: Es geht bei dieser Initiative um ein Thema, das praktisch nichts mit der Lebenswirklichkeit der hiesigen Muslime zu tun hat. Nur ganz wenige Musliminnen, die hier leben, tragen einen Niqab. Ich sehe ein grosses Risiko, dass es auf eine Symbolabstimmung hinausläuft, auf ein Votum für oder gegen den Islam und die Muslime. Ich frage mich, wo das enden soll: Als nächstes kommt das Kopftuch – und dann? Die Initiative führt zu einer weiteren Diskriminierung der Muslime und spielt damit letztlich nur den radikalen Kräften innerhalb des Islams in die Hände.
Im Zuge der aktuellen Flüchtlingswelle kommen viele Muslime in die Schweiz, die Zahl dürfte noch zunehmen. Als wie gross schätzen Sie die Gefahr ein, dass sich auch einzelne Terroristen unter die Flüchtlinge mischen?
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alles vermischen und muslimische Flüchtlinge unter Generalverdacht stellen. Wir sprechen von Menschen in einer Notsituation, die Jahre des Kriegs hinter sich haben, die Familienangehörige und all ihren Besitz verloren haben. Wir können die höchsten Mauern um unsere Länder bauen: Wenn ein Verrückter ein Attentat verüben will, wird er immer Wege finden.
Könnten Flüchtlinge aus muslimischen Ländern nach ihrer Ankunft in der Schweiz von radikalen Islamisten angeworben werden?
Das würde mich extrem verwundern. Wieso sollte ein Flüchtling aus Syrien ein Interesse haben, dorthin zurückzukehren und für die Islamisten zu kämpfen? Die allermeisten sind ja gerade vor dem sogenannten Islamischen Staat geflohen, der dafür verantwortlich ist, dass ihre Angehörigen getötet und ihre Häuser zerstört wurden.
Können die hiesigen Muslimverbände einen Beitrag leisten, damit jene Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan, die in der Schweiz bleiben werden, möglichst rasch integriert werden?
Ja, durchaus. Ich spüre unter den hiesigen Muslimen eine grosse Solidarität mit den Flüchtlingen, über alle ethnischen und konfessionellen Grenzen hinweg. Ich kenne mehrere Muslime, die ehrenamtlich Hilfe leisten. Bis jetzt fehlt es jedoch oft an den finanziellen Ressourcen, um es professionell zu machen. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn mehr muslimische Verbände öffentliche Mittel erhalten würden für Projekte, die der schnelleren Integration von Migranten dienen. Link NZZ