Gesichtsverhüllung: Eine liberale Abhandlung aus muslimischer Perspektive

Von A. Halilovic und E. Taha

Die öffentliche und mediale Diskussion rund um die sog. “Anti-Burka-Initiative” ist mittlerweile in vollem Gange und der Abstimmungstag rückt immer näher. Die Debatte verläuft sehr emotional, nicht zuletzt auch aufgrund der kontroversen Fragen, die sich auftun im Zusammenhang mit der Initiative: Steht die Gesichtsverschleierung für die Unterdrückung oder die Selbstbestimmung der Frau? Muss eine demokratische und liberale Gesellschaft auch stark divergierende Praktiken tolerieren? Wie weit geht diese Toleranz? Ist das “Zeigen des Gesichts” ein Wert und sind kollektive kulturelle Verhaltensnormen höher zu gewichten als die persönliche und religiöse Freiheit des Individuums?

Bei den meisten kritischen Beiträgen zur “Anti-Burka-Initiative” dominieren die Themenkomplexe des Antimuslimischen Rassismus und des Feminismus. Es lohnt sich durchaus diesen kritischen Blick zu werfen auf die ungleichen Machtverhältnisse und die muslimfeindliche Semiotik des Diskurses, sowie die perfide Usurpierung der geschlechtlichen Gleichstellung durch den rechtsnationalen Altherrenclub des Egerkinger Komitees. Gleichzeitig mangelt es aber, insbesondere aus einer muslimischen Perspektive, sowohl an der öffentlich sichtbaren Auseinandersetzung mit kontroversen innermuslimischen Thematiken wie der Gesichtsverschleierung, wie auch an einer dezidierten Anknüpfung an die liberale Tradition, auf welcher der moderne Rechtsstaat beruht.

Es muss ebenso festgehalten werden, dass nicht jede Person, die sich gegen die Gesichtsverschleierung ausspricht, pauschal als Rassist:in abzustempeln ist. Eine öffentliche Gesprächskultur, die geprägt ist von Maulkörben und Sprechverboten, fördert lediglich die weitere Polarisierung. Schlussendlich waren und sind es Muslim:innen selbst, die sich kritisch mit der eigenen religiösen Tradition auseinandersetz(t)en. Gesichtsschleier waren und sind in muslimisch geprägten Staaten in diversesten Ausprägungen vorhanden. Sie wurden jedoch historisch betrachtet primär von einer kleinen Minderheit in urbanen Oberschichten getragen, als Ausdruck ihres gehobenen sozioökonomischen Status, während der Gesichtsschleier bei der absoluten Mehrheit der Muslim:innen nicht vorkam. Dass auch wirtschaftlich bessergestellte Christ:innen und Jüd:innen den Gesichtsschleier trugen, geht dabei gerne vergessen. Es waren jedoch auch muslimisch geprägte Länder, wie die Türkei oder Tunesien, welche im 20. Jh. als erste den Gesichtsschleier und/oder das Kopftuch einschränkten, bzw. ganz verboten. Die historische Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt aber ebenfalls, dass eine einschlägige Verbotskultur offenbar wenig bringt, da der Gesichtsschleier ab den 1980er/1990er-Jahren ein Revival erlebte. Man macht es sich also zu einfach, wenn man denkt, dass man der Ideenwelt, welche hinter dem Gesichtsschleier steht mit dem Verbot einzelner Kleidungsstücke beikommen kann. Die moderne Praxis des Gesichtsschleiers hat ihre Hintergründe in ganz bestimmten reaktionär-puritanistisch, identitär und ideologisch geprägten Diskursen. Dass, wie Andreas Tunger-Zanetti in “Verhüllung” aufzeigt, die meisten Frauen, die einen Gesichtsschleier im westeuropäischen Kontext tragen, nicht aus muslimisch-religiös geprägten Haushalten stammen, ist indikativ hinsichtlich der Frage inwiefern die Gesichtsverhüllung Teil der muslimischen Tradition und Lebenspraxis ist, oder eben nicht.

Hier müssen muslimische Theolog:innen, Denker:innen und Aktivist:innen ansetzen und ein Modell der Religionspraxis entwickeln und anbieten, welches harmoniert mit der Lebensrealität der Schweizer Muslim:innen und ihre Teilhabe an unserer offenen und pluralistischen Gesellschaft fördert. Die Erleichterung (taysīr / ruḫaṣ), das Gemeinwohl (maṣlaḥa) und die Gewohnheiten des Landes (ʿurf) sind zentrale Aspekte der Šarīʿa, welche nicht aus den Augen gelassen werden dürfen. Muslim:innen sollten einen sensiblen und rücksichtsvollen Umgang pflegen in ihrer Glaubenspraxis. Muslimische Theolog:innen können Frauen mit Gesichtsverschleierung deshalb durchaus empfehlen, auf die kulturellen, bzw. einheimischen Sensitivitäten einzugehen und auf gewisse Marginalien zu verzichten.

Dennoch liegt es am liberalen Staat die persönliche, darunter auch die religiöse Freiheit zu schützen und zu fördern. Die Toleranz, insbesondere in religiöser Hinsicht ist ein zentrales Gut in der Entwicklung der westeuropäischen, vor allem auch der schweizerischen Rechtsordnung(en). Nur schon ein kursorischer Blick auf die Entstehung unseres Bundesstaates bestätigt uns die Wichtigkeit der Toleranz für den, auch heutigen, gesellschaftlichen Frieden und das Gemeinwohl. Ein absolutes Verhüllungsverbot, wie es die Initianten fordern, ist aus dieser ureigenen liberalen und schweizerischen Sicht höchst problematisch. Dem Individuum sollte es freistehen sich zu kleiden, wie es das möchte, wobei natürlich in sicherheitsrelevanten, amtlichen, schulischen etc. Kontexten auf die Gesichtsverhüllung zu verzichten ist.

Der Staat und sein Gemeinwesen definieren in einer liberalen Konzeption nicht für Individuen was das gute Leben ausmacht. Sie geben dem Individuum den Rahmen, zum ‘guten Leben’ zu gelangen. Es liegt jedoch an dem Individuum, wie es dies tut. John Stuart Mill hielt in seiner Definition des Schadensprinzips fest: «Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmässig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. […] Man kann einen Menschen nicht rechtmässig zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser für ihn wäre, weil es ihn glücklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug oder sogar richtig handeln würde. Dies sind wohl gute Gründe, ihm Vorhaltungen zu machen, mit ihm zu rechten, ihn zu überreden oder mit ihm zu unterhandeln, aber keinesfalls um ihn zu zwingen. […]». Der Gesichtsschleier mag uns irritieren, wir mögen ihn ablehnen, ja sogar das verachten wofür er steht. Es stellt sich hier aber die fundamentale Frage: Wem schadet es substanziell, wenn eine Frau in der Schweiz selbstbestimmt und aus freiem Willen einen Gesichtsschleier trägt? Müssten wir nicht als Verfechter:innen einer liberalen Gesellschaftsordnung für die maximal mögliche Freiheit des Individuums einstehen, so lange diese nicht die Freiheit anderer Individuen einschränkt und auch wenn sie uns massiv irritiert? Sollen nun sämtliche Erscheinungen, die einen bestimmten Bevölkerungsteil stören, per Verfassungsänderung verboten werden?

In seinem Aufsatz zu den “Two Concepts of Liberty” definierte Isaiah Berlin die negative Freiheit als “die Antwort auf die folgende Frage: ‘Was ist der Umfang in dem das Subjekt – eine Person oder eine Personengruppe – die Freiheit hat oder haben sollte zu tun oder zu sein, was es tun oder sein kann, ohne Einmischungen von anderen Personen[?]’”. Der liberale Staat sollte in diesem Sinne eigentlich nicht interessiert sein daran, ob eine Frau mit Gesichtsverhüllung ein sog. “freies, emanzipiertes, westliches Leben” führt. Viel eher liegt es im Interesse des Staates sicherzustellen, dass z. B. die Frau mit Gesichtsverhüllung, die Frau ohne Gesichtsverhüllung nicht daran hindert ihr Leben so zu führen, wie sie es möchte, und umgekehrt.

Der Staat besteht aus seinen Bürger:innen. Um so mehr ist dies in der Schweiz der Fall, wo wir als Bürger:innen mit dem Initiativ- und Referendumsrecht die Möglichkeit von direkten Eingriffen in die Politik und das Recht haben. Mit diesem grösseren Spielraum muss auch eine grössere Verantwortung einhergehen. Es liegt an uns, als Bürger:innen dieses Landes, Sorge zu tragen zu unserer offenen und liberalen Gesellschaft und unserer demokratischen Rechtsordnung. Als Schweizer:innen müssen wir uns immer die Frage stellen, bis zu welchem Grad wir unser liberales und erfolgreiches Gesellschafts- und Staatsmodell verbiegen wollen, um nicht durch, für uns fremde Erscheinungen, irritiert zu sein?

“Was ist das: Toleranz? Es ist die schönste Gabe der Menschlichkeit. Wir sind alle voller Schwächen und Irrtümer; vergeben wir uns also gegenseitig unsere Torheiten. Das ist das erste Gebot der Natur.”

Über die Intoleranz / Voltaire. – Suhrkamp, 2015 (S. 164)